Saturday, 9. June 2007

Bürgerkriegsähnliche Zustände in Teilen Nairobis

Brutales Vorgehen der kenyanischen Sicherheitskräfte gegen die Mungiki-Sekte

Kenyanische Sicherheitskräfte haben Dutzende von angeblichen Angehörigen der verbotenen Mungiki-Sekte erschossen. Mit ihrem brutalen Vorgehen reagierten sie auf Enthauptungen und Polizistenmorde, die auf das Konto der Sekte gehen sollen.

K. P. Nairobi, 8. Juni

Mathare wirkt auf den ersten Blick, als ob nichts geschehen wäre. In dem Elendsviertel türmen sich die üblichen Müllhalden am Strassenrand. Auf den freien Plätzen dazwischen haben sich fliegende Händler und Kioske niedergelassen. Schuhe sind auf improvisierten Podesten liebevoll ausgestellt, und farbenfrohe T-Shirts und Frottiertücher an Wäscheleinen oder Hauswänden aufgehängt. Die Kundschaft aber fehlt. Die holprigen Strassen zu beiden Seiten des Mathare-Flusses, einer übelriechenden Kloake, sind verdächtig leer. Auch zwischen den Wellblechhütten, die sich zu Tausenden in das Tal drängen, lassen sich nur ungewohnt wenig Leute ausmachen. Niemand weiss, wie viele Bewohner dem Slum schon den Rücken gekehrt haben, nachdem die Sicherheitskräfte hier in den letzten Tagen mehr als 30 Personen erschossen, Hunderte verhaftet und Unzählige verprügelt hatten.

Auf der Flucht

In Kosovo, einem Viertel im Westen des Slums, stehen Handkarren und Pick-ups auf dem Spielplatz einer öffentlichen Schule. Männer beladen sie mit armseligem Mobiliar, Wasserbehältern, Kisten, den Habseligkeiten der Habenichtse also, die sich nur gerade hier ein kleines Zimmer leisten können. Wer kann, flüchtet - zu Verwandten in ruhigeren Elendsvierteln oder aufs Land. Eine alte Frau balanciert eine Truhe auf dem Kopf. Ja, sie verlasse Mathare, sagt sie im Vorbeigehen, doch reden will sie nicht darüber. Zu traumatisch ist das, was sie in den letzten Tagen erlebt hat, zu gross die Angst vor den Sicherheitskräften und vor der nicht weniger brutalen Mungiki-Sekte.

Die mafiaähnliche Sekte, die sich vor allem mit der Erpressung von Schutzgeldern finanziert, hat den kenyanischen Staat herausgefordert. Mit Ritualmorden, bei denen die Opfer nach schrecklichen Folterungen geköpft wurden, verbreitete sie in Nairobi und im Zentrum des Landes Angst und Schrecken. In Mathare wurden am Montag zwei patrouillierende Polizisten - angeblich von einem Mungiki-Mitglied - erschossen; ihre Sturmgewehre wurden gestohlen. Die Sicherheitskräfte reagierten mit einer Gewaltorgie der Vergeltung. Bei der Durchkämmung von Mathare fanden sie nicht nur die beiden Sturmgewehre und die mutmassliche Tatwaffe im Polizistenmord, sondern auch einen enthäuteten Menschenkopf.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Über die Mungiki kursieren viele Gerüchte, doch gibt es nur wenige harte Fakten. Innenminister John Michuki, der hinter dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte steht, beschuldigt die Sektenmitglieder, bei ihren Ritualen menschliches Blut zu trinken. Ähnlich wie der sonst schweigsame Präsident Mwai Kibaki drohte Michuki, die Sicherheitskräfte würden Leute, die sich verdächtig machten, an Ort und Stelle erschiessen. Ein solcher Schiessbefehl besteht schon seit längerem für gewöhnliche Gewaltverbrecher und wurde nun auf die Mungiki ausgedehnt. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Kenyas Polizei selbst bis in die Chefetagen von kriminellen Elementen unterwandert ist und solche Befehle nicht selten für blutige Abrechnungen mit Konkurrenten im Verbrechermilieu missbraucht. Mit Sicherheit waren längst nicht alle der jüngst erschossenen Personen Mitglieder der verbotenen Sekte, sondern Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren.

Die regierungskritische Zeitung «The Standard» sprach sogar von regelrechten Exekutionen durch die Staatsmacht. Menschenrechtsgruppen und Kirchenvertreter kritisierten das Vorgehen der Sicherheitskräfte ebenfalls aufs Schärfste. Einige von ihnen und der Oppositionsführer Raila Odinga beschuldigten zudem führende Politiker wie Michuki, mit den Mungiki unter einer Decke zu stecken. Tatsache ist, dass sich die Mungiki praktisch ausschliesslich aus den Kikuyu, Kenyas grösster Ethnie, rekrutieren. Präsident Kibaki, Michuki und einige weitere führende Regierungsmitglieder sind Kikuyu. Tatsächlich haben die Mungiki aus dem Untergrund aber verlauten lassen, dass sie sich von Kibakis Regierung verraten fühlten. Mit ihren Ritualmorden gehen sie vor allem gehen abtrünnige Sektenmitglieder und angebliche Verräter vor. Sie terrorisieren damit aber auch all jene, welche die verlangten Schutzgelder nicht bezahlen wollen. Zur Kasse gebeten werden vor allem Minibusse und Mieter in Elendsvierteln wie Mathare.

Einer, der in Mathare von den Mungiki erpresst wurde, stellt sich als «Prince» vor. Seinen richtigen Namen will er nicht nennen. Er hat Angst und ist erst bereit zu reden, nachdem wir ihn mit dem Auto in ein unbeobachtetes Restaurant ausserhalb des Slums gebracht haben. Der 28-jährige Prince lebt seit zweieinhalb Jahren in Kosovo, zusammen mit seiner Frau und dem gemeinsamen Kind. Am Donnerstagnachmittag, als die letzte Polizeiaktion in Kosovo stattfand, war er zu Hause, nachdem er zuvor eine Nachtschicht an seiner Stelle als Hotelkoch absolviert hatte. «Als die Polizei anklopfte, ging ich sofort hinaus und streckte meine Identitätskarte und den Ausweis meines Arbeitgebers in die Höhe. Das hat mich wahrscheinlich gerettet. Ein Freund von mir namens Wanganga, der eine kleine Apotheke um die Ecke betrieb, hatte weniger Glück. Obwohl er ein alter Mann war, wurde er auf der Stelle erschossen. Die Polizisten nahmen seine Leiche mit, wir haben nur noch Blutflecken vorgefunden.» Wanganga sei zwar ein Kikuyu gewesen, habe aber mit den Mungiki gar nichts zu tun gehabt. Die Leute im Slum wüssten schliesslich, wer die Mungiki seien, denn diese kämen ja einmal im Monat vorbei, um die Schutzgelder zu kassieren. Seit Montag vermisst Prince ausserdem einen Nachbarn, der sich als Zeitungsverkäufer verdingt hatte. Auch er sei ein Kikuyu. Man wisse nicht, ob er tot oder nur verhaftet sei.


Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2007/06/09/al/articleF93JP.html

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